Was ist Agile Parenting?

Aktualisiert am 24. Mai 2019

Wenn man den Begriff „Agile Parenting“ in einer Suchmaschine eingibt, erhält man bereits einige Treffer. Beispielsweise dieses Video eines TED-Talks zu Agilen Methoden im Familienleben:

Bruce Feiler: Agile programming – for your family

Oder das „Agile Parenting Manifesto“ von Geof Lory.

Warum will ich nun meine Sicht von Agile Parenting noch einbringen, wo sich doch bereits andere Menschen dazu Gedanken gemacht haben?

Die kurze Antwort: Weil die oben benannten Ausführungen meiner Ansicht nach bei weitem nicht ausreichen, um das weite Feld der Elternschaft insbesondere mit Fokus auf Agile Vorgehensweisen auch nur ansatzweise zu erschließen. (Hier kannst du nachlesen, was mir bei Feilers Video fehlt)

So wie ich Jahre gebraucht habe, um die Essenz des Agilen Arbeitens wirklich zu begreifen, greifen für mich die beiden genannten Versuche einfach viel zu kurz. Sie beleuchten jeweils nur einen relativ kleinen Aspekt der Elternschaft. Diese fehlende inhaltliche Tiefe und die fehlende Breite der Themen, mit denen man sich als Eltern beschäftigt, ist das, was ich mit diesen Blog erweitern möchte.

Damit komme ich zurück zur Ausgangsfrage: Was macht Agile Familien eigentlich aus?

Von Methoden hin zu Werten

Kurzfassung: Genauso, wie sich Agiles Arbeiten dadurch definiert, dass es sich nach den Werten und Prinzipien des Agilen Manifests ausrichtet, ist für mich Agile Elternschaft keine Methode, die man auf seine Kinder anwendet, sondern ein Bündel an Werten, das uns im Leben mit unseren Kindern leitet.

Für den Umgang mit Kindern gibt es unzählige Methoden, die im Internet und Ratgebern gern als DIE Möglichkeit verkauft werden, endlich sein Kind unter Kontrolle zu bringen. Gerne mit Clickbait-Überschriften, wie „Mit diesem geheimen Trick beruhigt sich jedes Kind“ oder ähnlichem Unsinn. Mal abgesehen davon, dass Methoden, die versprechen, für jedes Kind immer zu funktionieren, unseriös sind, wären die meisten dieser „Allheilmittel“ bei unserem Wirbelwind gescheitert oder sie wären mit massiver Gewaltanwendung verbunden gewesen. (Und ja, wir haben in unserer Verzweiflung schon einiges, mit Ausnahme von Gewalt, versucht.)

Versteht mich nicht falsch, Methoden an sich sind nichts schlechtes. Im Gegenteil: Die richtige Methode in der richtigen Situation unter den passenden Voraussetzungen kann Wunder bewirken. Und da sowohl beim Arbeiten in einer komplexen Welt als auch im Leben mit Kindern jede Situation für sich betrachtet werden sollte, brauchen wir Entscheidungshilfen, einen Leitgedanken, der uns dabei hilft, die richtige Heransgehensweise für die passende Situation zu finden. Und da kommen jetzt die Werte ins Spiel.

Die sieben Werte der Agilen Elternschaft

Für mich bedeutet Agile Elternschaft, dass wir nach Werten handeln, die uns in unseren Entscheidungen über den Umgang mit unseren Kindern leiten. Da ich hier insbesondere von Agilen Familien schreibe, möchte ich den Bezug zum Agilen Manifest herstellen. Einige Bestandteile des ursprünglichen Agilen Manifests werden dabei keine Anwendung finden, weil sie sich zu sehr auf den Produkt-Aspekt beziehen, den ich im Kontext des Umgangs mit Kindern aus Gründen der Menschenwürde nicht einbringen möchte.

Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Tools

https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html

Dieser erste Wert des Agilen Manifests ist gerade für den Familienbereich zentral. In der Familie haben wir ja kein Produkt, das erstellt wird, sondern wir gehen mit kleinen und großen Menschen um, die eine Verbindung zueinander haben. Daher leiten sich aus diesem ersten Wert des Manifests die drei Werte Bindung, Respekt und Kommunikation für die Agile Elternschaft ab.

1. Bindung

Die Bindung zu unseren Kindern ist das Fundament, das unsere Beziehung zu ihnen trägt. Wenn sich unsere Kinder in der Bindung zu uns als Eltern sicher fühlen, besitzen  sie das Rüstzeug, um sich allen Herausforderungen zu stellen, die die Welt ihnen vor die Füße wirft. Eine Starke Bindung zu uns als Eltern gibt unseren Kindern die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und den Mut aufzubringen, auch mal Unbekanntes oder Unsicheres auszuprobieren.

Jede Methode, die diese Eltern-Kind-Bindung auf’s Spiel setzt, ist es nicht wert, auf unsere Kinder angewandt zu werden.

2. Respekt

Respekt bedeutet für uns, jedem Menschen mit all seinen individuellen Eigenschaften wertschätzend zu begegnen und wie einen würdigen Menschen zu behandeln. Im Besonderen bedeutet das, dass wir unsere Kinder wie vollwertige Menschen behandeln. Wir nehmen ihre Belange ernst, hören ihnen zu und gehen grundsätzlich davon aus, dass sie gute Gründe für ihr Verhalten haben (egal wie unangenehm uns dieses Verhalten gerade ist).

Respekt bedeutet für uns Eltern aber auch (und diesen Punkt kann ich gar nicht genug betonen!), Respekt vor uns selbst zu haben. Nur wenn wir mit uns selbst als Person respektvoll und achtsam umgehen, können wir unseren Kindern auch vorleben, wie respektvoller Umgang wirklich funktioniert.

3. Kommunikation

Zu dem Umgang zwischen Menschen, insbesondere in einer Familie, gehört ganz klar auch die Kommunikation. Dabei ist uns die Art und Weise der Kommunikation besonders wichtig. Das bedeutet, dass wir mit unseren Kindern kommunizieren statt über sie zu sprechen, oder vielleicht sogar in einen Monolog zu verfallen, bei dem sie am Ende nur noch nicken dürfen. Wir kommunizieren auf Augenhöhe. Das bedeutet z.B. dass wir versuchen, eine Sprache zu verwenden, die unsere Kinder verstehen können. Das bedeutet auch, dass wir versuchen, gewaltfrei zu kommunizieren (hierzu kann ich nur wärmstens das Buch „Gewaltfreie Kommunikation“ von Marshall B. Rosenberg empfehlen). Das bedeutet mitunter auch, dass wir uns wirklich physisch auf ihre Augenhöhe begeben und nicht von oben herab zu ihnen sprechen.

Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung

https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html

Der dritte Wert des Agilen Manifests betont den Aspekt der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen, oft mit stark unterschiedlichen Zielsetzungen begleiteten, Personengruppen. Daraus ergibt sich für die Agile Elternschaft die Wichtigkeit der Kooperation.

4. Kooperation

Wir als Eltern kooperieren mit unseren Kindern. Wir helfen ihnen, wenn sie Hilfe brauchen (auch wenn sie das geforderte bereits allein können). Wir treffen möglichst viele Entscheidungen gemeinsam als Familie, um alle Bedürfnisse adäquat berücksichtigen zu können. Wir stellen die Rahmenbedingungen für unsere Kinder bestmöglich zur Verfügung, so dass unsere Kinder ihrem natürlichen Kooperationswillen (mehr dazu bei Jesper Juul, Dein kompetentes Kind) gut nachkommen können.

Auch als Elternpaar sind wir auf Kooperation angewiesen, damit wir als Team agieren können. Wir sind zwar nicht immer einer Meinung, aber wir arbeiten intensiv daran, Konflikte konstruktiv miteinander zu lösen, ohne dass eine Person gegen die andere verliert.

Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans

https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html

Der vierte Wert des Agilen Manifests bezieht sich darauf, die Illusion der Planbarkeit in einer komplexen Welt sausen zu lassen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren, die sich im Leben ergeben. Deshalb ist Anpassung für uns Agile Eltern so wichtig.

5. Anpassung

Wenn man mit Kindern zu tun hat, muss man sich ständig anpassen. Jedes Mal, wenn wir das Gefühl hatten, jetzt in einem Bereich einen guten Weg für uns als Familie gefunden zu haben, gab es wieder eine Veränderung. Meistens ist es das Kind selbst, das sich im rasenden Tempo weiterentwickelt, so dass wir als Eltern manchmal kaum hinterherkommen. Manchmal sind es aber auch die Begleitumstände (KiTa, Arbeit, Wohnort, usw.), die dafür sorgen, dass wir flexibel auf die aktuelle Situation reagieren müssen.

Zusätzlich zur Anpassung, die aus Veränderungen von außen veranlasst wird, arbeiten wir als Eltern auch daran, proaktiv Veränderungen herbeizuführen. Wir reflektieren uns als Familie mitsamt den von uns gestalteten Umständen regelmäßig, um im Sinne eines guten Zusammenlebens Veränderungen herbeizuführen, von denen wir glauben, dass sie für uns hilfreich wären. Hierbei versuchen wir, es möglichst einfach zu halten: Ausprobieren und wenn wir merken, dass es doch nicht für uns passt oder nicht den gewünschten Mehrwert bringt, eine angepasste oder gänzlich andere Strategie einsetzen.

Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.

https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html

Aus den zwölf Prinzipien zum Agilen Manifest ist dieses Prinzip zentral aus Elternsicht. Wie bei einem Agilen Team auch, brauchen Kinder das richtige Umfeld, die richtige Unterstützung und einen großen Schuss Vertrauen, um sich gut entwickeln zu können. Als Agile Eltern müssen wir dafür die Verantwortung übernehmen.

6. Verantwortung

Da unsere Kinder auf dieser Welt ohne uns Eltern verloren wären, tragen wir die Verantwortung, sie in dieser Welt zu begleiten. Wir sind verantwortlich dafür, ihnen zu zeigen, wie unsere Welt funktioniert. Wir sind verantwortlich dafür, unsere Lebensumstände so zu gestalten, dass unsere Kinder darin gedeihen können. Wir sind verantwortlich dafür, die Beziehung zu unseren Kindern zu gestalten. Wir sind dafür verantwortlich, es unseren Kindern so leicht wie möglich zu machen, mit uns zu kooperieren. Wir sind dafür verantwortlich, uns darüber zu informieren, was wir von unseren Kindern in einem bestimmten Alter überhaupt erwarten können und unsere Erwartungen entsprechend anzupassen.

Kurz: Wir als Eltern tragen grundsätzlich die Verantwortung für unsere Kinder und sollten uns dessen immer bewusst sein.

7. Vertrauen

Wir haben großes Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Kinder und versuchen, so gut wir es eben können, sie selbst Entscheidungen treffen zu lassen. Kinder können auch im Babyalter schon gut einschätzen, was sie brauchen und was sie können. Wir vertrauen darauf, dass unsere Kinder zum für sie richtigen Zeitpunkt ihre Entwicklungsschritte machen. Wir vertrauen darauf, dass sie uns (mit den ihnen möglichen Mitteln) mitteilen, wann sie unsere Hilfe brauchen, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen.

Dass wir ihnen vertrauen, heißt natürlich nicht, dass wir sie mit ihren Entscheidungen allein lassen. Hier kommt die Verantwortung wieder ins Spiel. Wir vertrauen darauf, dass unsere Kinder mit der Erfahrung, die sie haben, die beste Entscheidung treffen, die sie treffen können. Wir sind aber als Sicherheitsnetz für sie da, wenn sie in ihrer Einschätzung daneben liegen. Denn Fehler gehören zum Lernen dazu. Unsere Kinder müssen die Möglichkeit haben, im sicheren Rahmen Fehler zu machen, um daraus zu lernen.

Das klingt ja alles zu schön, um wahr zu sein…

Ja, das ist es auch!

Diese sieben Werte sind unsere Leitlinien. Wir orientieren uns an ihnen in unserem Umgang mit unseren Kindern aber auch mit anderen Menschen.

Gelingt uns das immer?

Auf keinen Fall! Schließlich sind wir auch nur Menschen.

Gerade in schwierigen Phasen, wenn es sehr stressig ist, die Nächte kurz sind, das Wetter mies, die Kinder schlecht drauf, gelingt es uns nicht so gut, nach unseren Werte zu handeln. Das sollte uns aber nicht daran hindern, wenigstens jeden Tag zu versuchen, unser Bestes zu geben. Und unseren Werten gerecht zu werden.

Und wie lässt sich das Ganze jetzt konkret umsetzen?

Die schlechte Nachricht: Die konkrete Umsetzung der sieben Werte im täglichen Umgang mit Kindern würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Die gute Nachricht ist: Das sind die vielen kleinen und großen Themen in unserer Agilen Familie, denen ich mich auf diesem Blog widmen möchte. Also schaut euch um! Lasst euch inspirieren! Stellt Fragen!

Ich freue mich auf den Austausch.

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Autor:in

Silke hat zwei Kinder, lacht erschreckenderweise besonders laut über Flachwitze und liebt die Scheibenwelt von Terry Pratchett.

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