Wie uns unser gefühlsstarkes Kind zum Agile Parenting brachte

Aktualisiert am 23. August 2019

Als wir Wirbelwind bekamen, waren wir damit in unserem Freundeskreis unter den ersten mit Kindern. Wir gingen relativ blauäugig an die Sache ran und gingen davon aus, dass wir das schon hinkriegen würden. Schließlich hatten das Millionen von Eltern vor uns auch irgendwie hingekriegt. Wir hatten nicht damit gerechnet, ein gefühlsstarkes Kind zu bekommen.

Unser Baby war anspruchsvoller

Unser Wirbelwind schien sich anders zu verhalten als andere Babys. Irgendwie war alles anstrengender bei uns.

Bereits in der ersten Nacht im Krankenhaus verzweifelten wir daran, dass sie einfach nicht in dem Beistellbett neben mir schlafen wollte. Irgendwann zu später Stunde kam ich dann auf die Idee, sie mir einfach auf den Bauch zu legen und dann war es gut. Sie brauchte Körperkontakt. Immer.

Da wir anfangs dachten, wir könnten unser Baby trainieren, auch im Bettchen oder Kinderwagen zu schlafen, habe vor allen Dingen ich in den ersten Monaten unheimlich viel Energie damit verschwendet, alles mögliche auszuprobieren (mit Ausnahme von Schreien lassen!), nur damit das Baby endlich woanders schläft als im Tragetuch oder auf mir.

Mit meinem heutigen Wissen wäre diese Zeit viel besser in Schlaf investiert gewesen.

Wirbelwinds besonderer Charakter trat immer mehr zu Tage. Den Kinderwagen nahm ich bald schon gar nicht mehr mit, wenn ich mit ihr unterwegs war.

Auf einer Decke auf dem Boden liegen? Maximal für ein paar Minuten. In der Babyschale im Auto selig schlummern? Eher die Ausnahme. Meinen Rückbildungskurs musste ich abbrechen, weil sich Wirbelwind daheim beim Papa die Seele aus dem Leib schrie.

Mutter-Kind-Yoga? Während die anderen Babys zumeist freudig strahlend ihrer Mama beim Turnen zusahen, war Wirbelwind schnell langweilig. Von der Kursleiterin wollte sie aber auch nichts wissen, nur auf Mamas Arm war alles gut.

Während andere Babys in unserem Umfeld pünktlich mit ca. 8 Monaten die „8-Monats-Angst“ vor Fremden hatten, konnte Wirbelwind ab einem zarten Alter von 3-4 Monaten schon deutlich Mama von anderen Menschen unterscheiden und tat meistens schreiend kund, wenn ihr die andere Person noch zu „fremd“ erschien. Die 400 km weit weg wohnenden Großeltern mussten in den ersten 18 Lebensmonaten immer erst einmal 1-2 Tage zu Besuch sein, bevor sie Wirbelwind auf den Arm nehmen durften.

An sich brauchte Wirbelwind gar nicht viel, um glücklich zu sein. Sie wusste halt sehr genau, was sie brauchte und hatte eine niedrige Toleranzschwelle, wenn etwas nicht ganz ihren Bedürfnissen entsprach. Und sie brauchte wahnsinnig viel Körperkontakt. Mein Tragetuch (und später die Babytrage) wurden meine wichtigsten Begleiter im Alltag mit Baby.

Ist es ein High-Need-Baby?

Als Wirbelwind 3 Monate alt war, stolperte ich zum ersten Mal über den Begriff „High-Need-Baby“. Besonders angesprochen hat mich dabei, dass es offenbar nicht an uns Eltern lag, dass unser Kind so anstrengend war, sondern, dass es eben Kinder mit sehr starken Bedürfnissen gibt.

So sehr mir die Bezeichnung „High-Need-Baby“ damals geholfen hat, lange bevor in Deutschland der Begriff Gefühlsstärke von Nora Imlau geprägt wurde, so problematisch finde ich mittlerweile den Autoren William Sears und möchte ihn hier explizit nicht mehr zur Lektüre empfehlen (Nora Imlau hat die Gründe in ihrem Artikel Die schwierigen Wurzeln des Attachment Parenting gut zusammengefasst).

Für mich war die Erkenntnis, dass wir ein Kind mit besonders hohen Ansprüchen hatten, ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dahin, mein vermeintlich anstrengendes Kind besser zu verstehen. Ich hörte mehr und mehr auf, dagegen anzukämpfen, dass sie eben nicht im Kinderwagen liegen wollte und nicht einfach so bei anderen Menschen bleiben wollte.

So kamen wir zumindest schon deutlich entspannter durch das erste Lebensjahr mit Wirbelwind.

Was tun in der gefühlsstarken Autonomiephase?

Allgemein sagt man, dass die Autonomiephase um das zweite Lebensjahr herum so richtig deutlich zutage tritt. In meiner (zugegebenermaßen etwas verzerrten) Erinnerung begann die Autonomiephase bei Wirbelwind bereits mit 1. Sie wollte nicht an die Hand, wenn wir über die Straße gingen, sie wollte abends nicht aufräumen, nachdem wir den ganzen Tag gespielt hatten und warf sich gern mit lautem Geschrei auf den Boden.

Heute würden wir an diese Themen ganz anders herangehen, aber zum Lernen gehören Fehler eben dazu.

An diesem Punkt fing also die „Recherche“ wieder von vorn an. Wie kann ich gewaltfrei einem wütenden Kind begegnen? Dabei habe ich in vielen Büchern und Blogs geschmökert (nachzulesen unter Meine Top 3 Bücher für Agile Eltern und Meine Top 3 Eltern-Blogs für Agile Eltern), bis sich mit der Zeit unser Vorgehen, unser Agile Parenting herauskristallisierte.

Dabei hat uns unsere Arbeit im Agilen Kontext enorm geholfen. Vor allem der Grundsatz des „Inspect & Adapt“ passte sehr gut, also Analysieren und Anpassen. Wir haben versucht, unsere schwierigen Situationen mit Wirbelwind möglichst konstruktiv zu beleuchten und Ursachen für diese Situationen zu finden. Für die jeweilige Ursache haben wir dann Lösungen erarbeitet, wie wir zukünftig besser damit umgehen könnten. Wie solche Lösungen konkret aussehen, kannst du unter Agiler Familienalltag genauer nachlesen.

Unser Vorgehen lief irgendwann eigentlich ganz gut… bis Sonnenschein sich ankündigte.

Große Verunsicherung durch ein kleines Geschwisterchen

Wir erwarteten nämlich nicht nur Nachwuchs, sondern zogen kurz vor der Geburt auch noch in eine andere Stadt. Das brachte unser ganzes Familiengefüge ziemlich ins Wanken. Und Wirbelwind als kleiner Gefühls-Seismograf, der sie ist, spiegelte uns diesen Umbruch in ihrem Verhalten deutlich wider.

Sie klebte plötzlich wieder förmlich an mir. Der Herzensmensch durfte sie nicht mehr ins Bett bringen, nachts nicht beruhigen, tagsüber nicht mit ihr spielen. Die Trennung morgens in der KiTa wurde immer schwieriger und war nach Monaten problemloser Trennungen morgens plötzlich mit Tränen verbunden. Und das war noch vor dem Umzug.

In der neuen Stadt, mit neuer Umgebung und neuer KiTa wurde es nicht besser. Ohne mich ging in Wirbelwinds Augen gar nichts mehr. Und dann war plötzlich dieses kleine Baby da, das immer an mir hing. In dieser Zeit habe ich plötzlich nochmal Wutanfälle erlebt, die alles davor in den Schatten stellten. Das brachte mich und den Herzensmenschen manches Mal an den Rand der Verzweiflung.

Ich erinnere mich noch gut an meine Hilflosigkeit, als ich zum ersten Mal mit dem 2 Wochen alten Sonnenschein im Tragetuch Wirbelwind aus dem Kindergarten abholen wollte. Sie lief vor mir weg, schrie unverständliche Worte und war nicht zu beruhigen. Eine andere Mutter kam mir zu Hilfe, indem sie Sonnenschein kurz auf den Arm nahm, während ich meine volle Aufmerksamkeit auf Wirbelwind fokussieren konnte.

So konnte ich sie wenigstens anziehen und aus dem Kindergarten befördern. Später kam heraus, dass sie erwartet hatte, vom Herzensmenschen abgeholt zu werden und die in ihren Augen überraschende Planänderung hatte sie so überfordert, dass sie komplett ausgerastet war.

Mit viel Geduld und Liebe durch jeden Gefühlssturm

In dieser für alle Beteiligten schwierigen Umbruchzeit habe ich irgendwann mal selbst formuliert, dass unser Wirbelwind ihre Gefühle einfach viel stärker fühlt als andere Kinder. Dadurch wurden für sie scheinbare Kleinigkeiten oft zum schlimmen Weltuntergang mit dazu passendem lauten Wutanfall. Und entsprechendem Stressfaktor für uns Eltern.

Rund ein Jahr später erschien das Buch So viel Freude, so viel Wut von Nora Imlau. Trotz meines vollgepackten Alltags mit Baby und Kleinkind hatte ich das Buch innerhalb kürzester Zeit verschlungen.

Es war, als hätte die Autorin unser Kind beschrieben. Ich wünschte, dieses Buch hätte es bereits früher gegeben. Dann hätten wir manche Dinge vielleicht nicht so schmerzlich lernen müssen, wie wir es getan haben.

Die schönste Erkenntnis für mich nach der Lektüre des Buchs war: Wir hatten mit unserem „Agile Parenting“ schon die richtige Richtung für unser gefühlsstarkes Kind eingeschlagen. Es lag nicht an uns Eltern, dass unser Kind so leicht ausflippte, sie hatte einfach von Geburt an eine explosivere Persönlichkeit.

Mittlerweile hat sich unsere Situation wieder etwas beruhigt. Wir sind als Familie langsam angekommen. Das Leben zu viert spielt sich mehr und mehr ein und Wirbelwind explodiert in der Regel nicht mehr so schnell. Weil wir unseren Alltag so gestalten, dass er die Bedürfnisse aller Familienmitglieder möglichst gut berücksichtigt.

Und da sich mit wachsendem Alter auch die Probleme und ihre möglichen Lösungen verändern, gibt es mittlerweile das lesenswerte Nachfolgebuch Du bist anders, du bist gut über ältere gefühlsstarke Kinder.

Wäre Wirbelwind ein „Anfängerbaby“ gewesen, das einfach so nebenher läuft, hätten wir uns vielleicht gar nicht auf unsere Reise zum Agile Parenting begeben. Dann wären wir vielleicht nie auf die Idee gekommen, in Frage zu stellen, wie wir als Eltern mit unserem Kind umgehen wollen. Dann gäbe es vielleicht auch diese Seite nicht.

Besondere Kinder kitzeln noch einmal ganz besondere Leistungen aus ihren Eltern heraus.

P.S.: Wenn du vermutest, dass auch du ein gefühlsstarkes Kind hast, kannst du auf der Verlagsseite einen kurzen Fragebogen ausfüllen, um eine Einschätzung zu bekommen.

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Autor:in

Silke hat zwei Kinder, lacht erschreckenderweise besonders laut über Flachwitze und liebt die Scheibenwelt von Terry Pratchett.

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  1. Hallo Silke,
    Ich bin gerade total überwältigt von dem, was du schreibst!
    Wir haben ein 6-jähriges gefühlsstarkes Kind, das uns bis zum Erscheinen von Nora Imlau Buch an den Rand der Verzweiflung gebracht hat. Ich hab auch vorher schon ganz viel gelesen, um mit ihren Eigenheiten umgehen zu lernen. Das Gewünschteste Wunschkind hat mich zur Bedürfnisorientierung gebracht. Auch Alfie Kohn hab ich gelesen und an seinem Buch orientiert. Die gewaltfreie Kommunikation kannte ich aus meinem Studium als Grundschullehrerin.
    Mein Mann hat vor zwei Jahren das agile Arbeiten für sich entdeckt und seitdem finden wir überall die Parallelen. Die wichtigste Erkenntnis war für uns, dass es nicht Dinge sind, die man tut, sondern eine innere Haltung! Egal ob in der Arbeit oder im Umgang mit den Kindern!
    Wie wunderbar hier eine Gleichgesinnte zu haben!

    1. Hallo Ulla,
      ich freue mich, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Ich finde es immer wieder beruhigend, wenn ich anderen Eltern mit gefühlsstarken Kindern begegne. Dann fühle ich mich nicht mehr so allein mit meinem quirligen Kind, bei dem Erziehungsmethoden einfach nicht funktionieren wollen.
      Also willkommen!

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